KogA

Stellungnahme zur Abschiebung einer Romni aus Celle und ihrer 6-jährigen, schwerbehinderten Tochter am 30. Juni 2021

Am 20. Juli 2021 erhielten wir über das Roma Antidiscrimination Network (RAN) Kenntnis von der nächtlichen Abschiebung einer alleinerziehenden Celler Romni und ihrer 6-jährigen, schwerbehinderter Tochter nach Serbien. Auf Anweisung der Celler Ausländerbehörde holten Beamt_innen beide am 30. Juni um 1:30 Uhr nachts ab. Ein noch nicht abschließend behandelter Einspruch im Asylverfahren und ein Härtefallantrag beim niedersächsischen Innenministerium wurden nicht berücksichtigt. Als Kompetenzstelle gegen Antiziganismus (KogA) der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten sind wir über das Vorgehen der Ausländerbehörde fassungslos. Wir schließen uns der Kritik des Flüchtlingsrats Niedersachsen, des Roma Center e.V. und des AK Asyl und Migration Celle an.


Der aktuelle Fall in Celle beinhaltet das, was wir meinen, wenn wir von Antiziganismus als einem historisch hergestellten, sich in den Formen verändernden, gesellschaftlich etablierten Rassismus mit gewaltförmigen Praktiken sprechen. Sprächen wir im vorliegenden Fall, wie bei vielen anderen Fällen der letzten Zeit, von „strukturellem oder institutionellem Antiziganismus oder Rassismus“ würde dies mit hoher Wahrscheinlichkeit von vielen Vertreter_innen der beteiligten Institutionen weit zurückgewiesen und von bedauerlichen Einzelfällen, ggf. von Fehlverhalten gesprochen werden. Oder die betroffenen Akteur_innen zögen sich auf die geltende Rechtslage zurück. Genau in diesen kommunikativen (Zwischen-) Räumen sind die „Blinden Flecken“ systemischer antiziganistischer Diskriminierung verortet. Das meint es auch, wenn wir davon sprechen, dass Sinti_ze und Rom_nja unsägliche Zumutungen erfahren und systemisch diskriminiert wurden und werden. Denn, wer ist nun genau für die Abschiebung verantwortlich? Die Polizei, die nachts kommt und Menschen abschiebt? Der/die Mitarbeiter_in der Ausländerbehörde, der/die die
Abschiebung – nach Rechtslage, intendiert antiziganistisch oder im vorauseilenden Gehorsam, schnell und ohne Abwarten der Entscheidung zum Asylantrag – anordnet? Der/die Vorgesetzte der Mitarbeiterin/des Mitarbeiters, die Quoten und Kennzahlen erfüllen oder einfach nur „hart und konsequent“ Recht umsetzen wollen? Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie Gerichte, die Asylanträge in vergleichbaren Fällen in aller Regel ablehnen? Der Gesetzgeber, der Serbien zum sicheren Herkunftsstaat deklariert hat? Die mangelnde Kommunikation unter den Akteur_innen vor Ort und den Institutionen auf Landes- und Bundesebene?

Dieses Vorgehen ist für uns in vielfältiger Weise unerträglich:

 

 

 

 

 

  • Es bestätigt die fehlende Sensibilität und das fehlende Bewusstsein für das Thema Antiziangismus.
  • Wir arbeiten seit Jahren zum Thema Antiziganismus und das mit bundesweiter Ausstrahlung. Nach einer Auftaktveranstaltung sind wir aktuell in der Anbahnung von Qualifizierungsmaßnahmen für Mitarbeiter_innen in Celler Behörden. Erst kürzlich waren wir im Rahmen der „Aktionswochen Vielfalt“ des Landkreises Celle mit Veranstaltungen aktiv. Diese Abschiebung in dieser Zeit und an diesem Ort empfinden wir als Affront und als ignorant.
  • Erst kürzlich hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den Europäischen Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma verliehen bekommen. In ihrer Dankesrede sprach sie von der schwierigen, diskriminierenden Situation für Rom_nja in den Westbalkanländern. Die fehlende Gleichberechtigung und den Antiziganismus bezeichnete sie als „Schande für unser Land“. Sie betonte, dass wir alle Antiziganismus entgegenwirken müssen. Das „wir“ meint hier nicht nur individuelles oder privates Handeln, sondern antiziganismuskritisches Handeln von beruflichen Akteur_innen, Institutionen und Organisationen.
  • Es ist unmenschlich, wenn die 2015 in Celle geborene und schwer behinderte Romni nach Serbien abgeschoben wird. Ein Land, in dem Rom_nja in vielfältiger Hinsicht benachteiligt werden. Die Chancen für eine entsprechende medizinische Versorgung sowie eine angemessene Förderung der Entwicklung stehen für das sechsjährige Mädchen sehr schlecht.
  • Das Vorgehen der Celler Behörde ist auch ein Affront gegen den gerade veröffentlichten Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA), die damit einhergehende Diskussion im Bundestag und die gemeinsame Erklärung von Bundesinnenministers Horst Seehofer und dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose.Im Bericht der UKA werden sechs zentrale Forderungen formuliert. Mindestens zwei sind im vorliegenden Falle berührt:Erstens, die „Umfassende Anerkennung des nationalsozialistischen Genozids an Sinti_ze und Rom_nja“ und die daraus erwachsene Verantwortung Deutschlands auch mit Blick auf Europa und die sogenannten sicheren Herkunftsstaaten. Zweitens, die „Anerkennung von geflüchteten Rom_nja als besonders schutzwürdige Gruppe“, welcher der „Zugang zu Recht, Wohnen, Gesundheit, Bildung und Arbeit erheblich erschwert oder gar verweigert“ wurde und wird. Damit einher geht die Empfehlungder UKA an die Bundesregierung und den Gesetzgeber, „die menschenrechtlich nicht haltbare Einstufung von Serbien, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Montenegro und dem Kosovo als „sichere Herkunftsstaaten“ zurückzunehmen.

Wie der Flüchtlingsrat Niedersachsen, das Roma Center e.V. und der AK Asyl und Migration Celle fordern wir die Rückkehr bzw. Rückholung der Familie sowie den sofortigen und vollständigen Abschiebestopp von Rom_nja. Wir appellieren an die Stadt Celle und das Land Niedersachsen, im konkreten Fall aktiv zu werden. Wir wünschen uns, dass das Land Niedersachsen im Sinne der zentralen Forderungen und Empfehlungen des Berichtes der Unabhängigen Kommission Antiziganismus aktiv wird.

 

Die Stellungnahme der Kompetenzstelle gegen Antiziganismus (KogA) ist auch auf der Webseite des Projekts zu finden.